Wie wurde aus Yoga eine Sportart?

Heute wird Yoga vor allem als Methode zur Förderung von körperlicher Fitness und Beweglichkeit verstanden. In unzähligen Yoga-Studios, am Strand und in öffentlichen Parks praktizieren Menschen Yoga – meist mit dem Ziel, sich zu entspannen, gesund zu bleiben oder ihre Muskeln zu stärken. Doch wie kam es dazu, dass die ursprünglich aus Indien stammende religiöse Praxis heute hauptsächlich körperorientiert ausgeübt wird?

Im alten indischen Kontext hatte Yoga eine religiöse Funktion. Die meditativ-asketischen Übungen dienten dem Ziel, Erkenntnis zu erlangen und das Selbst zu befreien. Der Begriff Yoga stammt vom Sanskrit-Wort yuga, das mit "Joch" übersetzt werden kann – jenes Gerät, mit dem ein Ochse für die Feldarbeit eingespannt wird. Yoga sollte also Körper und Bewusstsein "anschirren" und auf ein höheres Ziel ausrichten. Durch die Beherrschung von Körper und Geist sollte das unsterbliche, "höchste" Selbst erkannt und religiöse Erlösung erlangt werden. 

Der Gelehrte Patanjali systematisierte im 4. oder 5. Jahrhundert diese Praktiken in seinem Werk Yoga-Sutra. Darin verband er körperliche Übungen mit ethischen Vorgaben und dem Ziel hinduistischer Erlösung. Im ausgehenden 19. Jahrhundert interpretierte der neohinduistische Reformer Swami Vivekananda Patanjalis Yoga neu: Er verstand Yoga nicht mehr nur als Weg zur Erlösung, sondern auch als aktiven Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft. Sein Konzept des Karma-Yoga war Teil eines politischen Projekts zur Stärkung der indischen Identität und zur Verbesserung der Lebensumstände – eine Ausrichtung, die in Patanjalis Lehre nicht enthalten war.

Spätere Interpretationen des Yoga rückten den Körper zunehmend in den Mittelpunkt – insbesondere das im Yoga-Sutra erwähnte Hatha-Yoga ("Yoga der Kraft"), das auf Körperertüchtigung des Yogin abzielt. Der Inder Selvarajan Yesudian und die Ungarin Elisabeth Haich griffen diesen Ansatz sowie Vivekanandas aktivistisches Yoga in ihrer Yoga-Schule in Budapest und später in Zürich auf. In ihrem Buch Yoga und Sport (1949) kombinieren sie praktische Übungen mit einer gesundheitsorientierten Sichtweise auf Yoga. Es gilt als einflussreiches Grundlagenwerk für den körperbezogenen Yoga im Westen.

Einen weiteren Meilenstein setzte der Inder B.K.S. Iyengar mit seinem Buch Light on Yoga (1966). Mit detaillierten Anleitungen und zahlreichen Bildern machte er körperbetontes Yoga international populär. Sein Yoga-Zentrum im westindischen Pune zog viele westliche Schülerinnen und Schüler an, die diese Form des muskel- und gleichgewichtsorientierten Yogas nach Europa brachten. 

Im 21. Jahrhundert erlebt Yoga, das nun in Zentren und gegen Bezahlung erlernt werden kann, einen regelrechten Boom und steht im Zusammenhang mit einer verstärkten Fokussierung auf die eigene Person, auf Gesundheit, Fitness und Achtsamkeit. Neue Varianten wie Power-Yoga aus den USA oder das bei hohen Raumtemperaturen körperlich sehr fordernde Bikram-Yoga erfreuen sich grosser Beliebtheit, ebenso wie Lach-Yoga oder Baby-Yoga. 

Ein Studium der Religionswissenschaft befähigt dazu, solche Entwicklungen historisch einzuordnen und die Bedeutungsverschiebungen von Praktiken wie Yoga – vom religiösen Erlösungsweg zur körperzentrierten Lifestyle-Aktivität – kritisch zu analysieren. Aus religionswissenschaftlicher Sicht zeigt sich, dass Yoga im Laufe der Geschichte immer wieder neu interpretiert und dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext angepasst wurde. Für die moderne Zeit ist eine deutliche Säkularisierung festzustellen – das einst religiöse Streben nach Erlösung weicht einem Wunsch nach körperlichem und psychischem Wohlbefinden. 

Gleichzeitig bleibt die religiöse Herkunft des Yoga nicht ohne Wirkung. So betont die hindu-nationalistische Regierung Indiens beim von ihr ins Leben gerufenen Weltyogatag (21. Juni) besonders die gesundheitlichen Vorteile von Yoga – und präsentiert es zugleich als eine indisch-hinduistische Errungenschaft mit weltweiter Strahlkraft, ganz im Sinne der "Beglückung" der Welt, wie sie der Reformer Vivekananda betont hat.

Martin Baumann

 

Wenn du neugierig bist und mehr über Yoga gestern und heute erfahren möchtest, empfehlen wir dir folgende Literatur zum Einstieg in das Thema:

Bäumer, Bettina (Hrsg.). 1976. Patañjali: Die Wurzeln des Yoga. Die Yoga-Sutren des Patañjali mit einem Kommentar von P. Y. Deshpande. Bern, München, Wien: O. W. Barth Verlag.

Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland (BDY, Hrsg.). 2007. Der Weg des Yoga. 5. Auflage. Petersberg: Verlag Via Nova.

Iyengar, B. K. S. 1993. Licht auf Yoga. 7. Auflage. München, Wien: O. W. Barth bei Scherz. 

Mainau, Claudia. 2017. Yoga – indische Gymnastik oder mehr? In: Claudia Mainau, Yoga. Zurück ins Leben (S. 63-71). Berlin, Heidelberg: Springer. doi.org/10.1007/978-3-662-49929-0_4